„Wir werden nicht hungern, uns aber stark einschränken müssen“
Ein möglicher Gasstopp seitens Russlands hält auch die deutsche Agrar- und Ernährungswirtschaft in Atem. Ein vollständiger Lieferstopp könnte schon im Winter zu einer Lebensmittelknappheit führen, mahnt der Deutsche Bauernverband und fordert deshalb Versorgungsvorrang für die Branche. Doch wie würde sich ein Gasstopp hier genau auswirken, worauf müssten sich Verbraucher im Ernstfall einstellen und wie rüsten sich die betroffenen Betriebe. Die Agrarexperten Christopher Braun (FZ) und Christian Kentler (KR) geben Einblick.
Wie ist die aktuelle Situation der Agrar- und Ernährungsbranche mit Blick auf die drohende Gasknappheit?
Kentler: Wir befinden uns ja seit Ende Juni in der Alarmstufe des Notfallplans, das heißt, die Lage ist angespannt. Trotzdem ist die Gasversorgung in Deutschland momentan stabil und sowohl in der Ernährungsindustrie als auch bei den Landwirten kommt noch so viel Gas an, wie benötigt wird. Außerdem gibt es erste Signale aus der Politik, dass die Agrar- und Ernährungswirtschaft Vorrang genießt, sollte die Gaszufuhr eingeschränkt werden. Insofern stehen die Betriebe aktuell noch ganz gut da. Wir merken aber natürlich, dass das Thema Energiesicherung und auch das Thema Preissicherung unsere Kunden umtreibt.
Braun: Dazu muss man sagen, dass der Gasbedarf eines typischen Landwirtschaftsbetriebs überschaubar ist, das sind keine Großabnehmer wie in der Industrie. Solange also Gas fließt, spürt der einzelne Landwirt von der Knappheit noch wenig. Sollte es zu einem Gasstopp kommen, wären die Folgen hingegen gravierend spürbar. Gleichzeitig müssen wir berücksichtigen: Es ist zwar schön, wenn die Milch von der Kuh erzeugt und von der Molkerei verarbeitet wird, sie muss dann aber auch verpackt werden. Es braucht also eine sinnvolle Priorisierung, wie im Falle einer Gasknappheit verfahren werden soll. Dafür müssen Lieferketten und ihr Vorlauf berücksichtigt werden.
Wofür wird das Gas im Agrar- und Ernährungsbereich am dringendsten benötigt?
Braun: Das Gas wird vor allem für thermische Energie benötigt, also das Heizen oder auch Kühlen. Fangen wir beim Fleisch an: Für die Veredelung ist es hier nicht ganz so wichtig, aber insbesondere bei der Sauen- und der Geflügelzucht wird Wärme benötigt. Wenn wir kalte Ställe haben, wird es keine Fleischproduktion geben. Auch die Milch durchläuft verschiedene thermische Prozesse, bevor sie als Trinkmilch, Joghurt oder Käse im Supermarktregal landet. Und sie ist hochverderblich. Das heißt, wenn die Milch nicht in kürzester Zeit gekühlt wird, verdirbt sie und muss entsorgt werden. Auch für Gemüsebauern ist Energie ein zentrales Thema. Die Gewächshäuser müssen beheizt werden und die Pflanzen belichtet, besonders natürlich Richtung Winter. Und noch an einer ganz anderen Stelle ist Gas essenziell, nämlich für die Herstellung von Stickstoff-Dünger. Natürlich gibt es noch organischen Dünger in Form von Gülle. Er kann aber nicht so punktuell und spezifisch eingesetzt werden wie der anorganische.
Kentler: Kein Stickstoff-Dünger im Ackerbau bedeutet, dass wir schlechtere Qualitäten und nicht mehr so große Mengen ernten können. Wir sprechen hier von einem Ertragsrückgang von 30 bis 40 Prozent. Insbesondere bei Weizen würde man nicht mehr die Qualität erreichen, um Brotweizen herstellen zu können. Die Auswirkungen der Düngemittelknappheit würden wir allerdings erst 2023 spüren. Was die Düngung anbelangt, ist die Ernte dieses Jahr gelaufen. Aber wir merken, dass unsere Kunden versuchen, jetzt schon ausreichend Düngemittel für die nächste Saison einzukaufen. Zum einen, weil der Preis voraussichtlich weiter steigen wird, zum anderen, weil nicht klar ist, ob es demnächst noch genug gibt.
Braun: Aber auch ohne Dünger werden die Pflanzen wachsen, sie werden nur nicht so ertragreich. Schon dieses Jahr haben viele Landwirte deutlich weniger Dünger gekauft, weil der Preis auf das Drei- bis Vierfache angestiegen ist. Auch sie werden ernten, nur eben weniger. Aufgrund der höheren Preise dürfte sich das für die Landwirtschaftsbetriebe aber die Waage halten. Für die Verbraucher bedeutet das: Die Preise im Supermarkt werden weiter steigen.
Worauf müssen wir Verbraucher uns im Fall einer Gasverknappung oder gar eines Gasstopps einstellen?
Braun: Wenn die Versorgung auf dem aktuellen Level bleibt, werden wir so gut wie nichts merken. Ein Stopp hätte hingegen eine Verknappung der Angebotsvielfalt zur Folge. Gegebenenfalls kann es zu Rationierungen kommen, sowie wir es zu Beginn des Ukraine-Kriegs beim Sonnenblumenöl gesehen haben, nur eben für viel mehr Lebensmittel. Grundsätzlich wird sich der Fokus stärker auf Saisonware verlagern, vor allem bei Obst und Gemüse werden wir das merken.
Kentler: Wenn tatsächlich ein Gasstopp käme, dann wären auf jeden Fall die klassischen Molkereiprodukte wie Milch, Butter und Käse, die in der Herstellung sehr energieintensiv sind, nicht oder nur sehr eingeschränkt verfügbar. Das gleiche gilt für Fleisch- und Wurstprodukte, da in großen Schlachtbetrieben zum Beispiel das Enthaaren und Entkeimen ohne Gas nicht möglich ist. Eine Schließung von Molkereien und Schlachthöfen hätte auch große Auswirkungen auf die Landwirtschaft. Die Milch würde dann von den Höfen nicht mehr abgeholt und der Landwirt hätte ein ernsthaftes Entsorgungsproblem, Stichwort Milchsee. In der Schweinehaltung bekämen wir zudem ein Tierschutzproblem. Wenn die schlachtreifen Tiere nicht abgeholt werden, aber gleichzeitig immer neue Tiere nachkommen, laufen die Ställe voll.
Wie rüstet sich die Branche für einen möglichen Energienotstand?
Kentler: Vorweg muss man sagen, dass sich die Agrarbranche schon sehr früh mit regenerativen Energien beschäftigt hat. Viele Landwirte verfügen über eine Biogas- oder eine Photovoltaik-Anlage und können sich zumindest zum Teil selbst mit Energie versorgen. Andere Agrarkunden, wie etwa große, energieintensive Gewächshäuser, haben hingegen erst auf mit Erdgas betriebene Blockheizkraftwerke (BHKW) umgestellt. Die sogenannte Brückentechnologie wurde durch die öffentliche Hand gefördert, weil sie weniger Emissionen freisetzt. Von dieser Umstellung werden die Betriebe jetzt eingeholt. Einzelne Kunden überlegen deshalb, wieder auf Öl umzustellen. Die Molkerei Berchtesgadener Land baut beispielsweise schon seit Monaten einen Notbetrieb mit Heizöl auf. Das ist allerdings eine Investition in Millionenhöhe, die man sich leisten können und wollen muss. Auch einige Schweinehalter überlegen, ihre noch nicht entsorgten Öltanks wieder in Betrieb zu nehmen, um damit im Winter die Ställe zu beheizen.
Braun: Branchenübergreifend kann man sagen, dass es einen regelrechten Run auf Energie gibt. So entstehen beispielsweise regionale Kooperationen, bei denen Biogas oder Biomethan direkt an ein benachbartes Industrieunternehmen geliefert werden. Auch einer unserer Kunden hat sich bei einer nahegelegenen Biogasanlage das Gas gesichert. Das Unternehmen legt eigenständig eine Trasse von der Biogasanlage bis in seinen Betrieb. Gleichzeitig kann man sagen: Wer sich bis jetzt noch nicht mit erneuerbaren oder alternativen Energiequellen beschäftigt hat, der dürfte kurzfristig keinen Lieferanten mehr finden. Der Markt ist leer. Die Lieferzeiten betragen über ein Jahr.
Seit Anfang des Kriegs steigen auch im Supermarkt die Preise. Inwiefern hat sich das Verhalten der Verbraucher dadurch verändert?
Kentler: Wir kommen ja aus der Corona-Zeit, wo die Menschen relativ viel Geld zur Verfügung hatten, einfach weil es wenig Gelegenheit gab, es auszugeben. In dieser Zeit wurden viele heimische und saisonale Produkte gekauft. Durch die Inflation, die im Wesentlichen ja auch durch den Krieg getrieben wird, hat sich das verändert. Die Verbraucher kaufen sehr viel preisbewusster ein, schauen nach Angeboten und gehen eher zum Discounter statt zu klassischen Supermärkten wie Rewe oder Edeka. Zusätzlich kommt momentan verhältnismäßig viel ausländische Ware auf den deutschen Markt, insbesondere Beerenfrüchten aus den Südländern. Das hängt damit zusammen, dass die Ukraine und Russland als Abnehmer wegfallen. Gerade diese Produkte haben aktuell aber auch hier Saison. Die heimischen Produkte stehen also noch mehr als sonst in Konkurrenz zu der günstigeren ausländischen Ware, die momentan mit Blick auf den Geldbeutel von vielen Verbrauchern bevorzugt wird.
Braun: Hier müssen wir in der Tat wachsam sein. Bei Energieträgern sind wir bereits abhängig von günstigen Fremdzulieferern und bekommen die Auswirkungen gerade deutlich zu spüren. Wenn wir die Agrar- und Ernährungsindustrie jetzt abstrafen, dürfte sich der Strukturwandel weiter beschleunigen. Damit einhergehend würde unser Selbstversorgungsgrad drastisch sinken. Weiter steigende Preise bis hin zu eingeschränkter Verfügbarkeit von Lebensmitteln könnten die Folge sein.
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