Rainer Krauser geht seinen Weg
„20. Obergeschoss“ verkündet die synthetische Stimme im Aufzug. Der dritte Knopf von oben führt Rainer Krauser auf das Stockwerk mit seinem Büro. Damit er sich oben orientieren kann, welche Flurtür er nehmen muss, merkt er sich unten schon den Aufzug, in den er einsteigt. Insgesamt sind es vier, jeweils zwei auf einer Seite. Den morgendlichen Weg zur Bank legt er routiniert und in der Regel problemlos zurück. Mit dem Blindenstock ertastet er Übergänge im Straßenverlauf oder mögliche Gefahren. In der Nähe der Bank kommen oft Kollegen zu Hilfe, ansonsten verlässt er sich auf sein Gehör.
Die nächste Hürde ist die Drehtür zum Eingang. Um nicht unkontrolliert in ihren Sog zu geraten, wartet er ab, bis sie steht, um dann in seinem eigenen Tempo durchzugehen. Rainer Krauser ist blind und arbeitet mittlerweile seit 23 Jahren bei der DZ BANK im Bereich Konzern Finanzen. Er sieht an diesem Morgen perfekt gekleidet aus: schwarze Anzughose mit weißem Stoffhemd, darüber ein grauer Pulli. Die Krawatte trägt er – wie die meisten Kollegen – nurmehr zu besonderen Anlässen. Bei der morgendlichen Kleiderauswahl kommt eines der vielen digitalen Hilfsmittel zum Einsatz, das blinden Menschen das Leben erleichtert: ein Farberkennungsgerät, das über eine Sprachausgabe Farben wiedergibt.
Vor 30 Jahren wäre so ein selbstständiges Arbeiten, wie ich es heute mache, nicht möglich gewesen.
Technische Hilfsmittel
„Vor 30 Jahren wäre so ein selbständiges Arbeiten, wie ich es heute mache, nicht möglich gewesen“, erklärt Krauser. Als Student hat er in die Vorlesungen meistens einen Kassettenrecorder mitgenommen, alles aufgezeichnet und beim nochmaligen Hören zuhause mit seiner mechanischen Blindenschreibmaschine Notizen gemacht. Heute erleichtern die technischen Hilfsmittel vieles bzw. machen Rainer Krausers Einsatz am Arbeitsplatz überhaupt erst möglich. Neben der Standardausrüstung ist sein Arbeitsplatz mit einer elektronischen Sprachausgabe und einer Blindenschriftzeile – auch Braille-Zeile genannt – ausgestattet. Finanziert hat diese Spezialausstattung die Bundesagentur für Arbeit. „Dafür brauche ich keine persönliche Arbeitsassistenz“, sagt Krauser nicht ganz ohne Stolz. Das funktioniert, da in der Regel alle Informationen, auf die er zugreifen muss, elektronisch vorliegen und mit seinen Hilfsmitteln zugänglich sind. Blinde berufstätige Menschen haben sonst oft eine Arbeitsassistenz, die ihnen Texte vorliest und beim Organisieren des Arbeitsalltags hilft. „Eigentlich habe ich schon lange das papierlose Büro,“ scherzt Krauser.
Texte lässt er sich durch die Sprachausgabe vorlesen, teilweise in deutlich höherer Geschwindigkeit, als man es gewohnt ist – seine Ohren sind trainiert. Alternativ nutzt er auch die Blindenschriftzeile als Bildschirmersatz. Zum Schreiben nutzt er wie andere Kollegen die Tastatur und das Zehn-Finger-System. Seit dem Ausbruch von Corona 2020 arbeitet Krauser auch regelmäßig von zu Hause aus, wo ihm die gleiche Ausstattung zur Verfügung steht wie in seinem Büro in der Bank. „Das funktioniert sehr gut“, so sein Fazit. Gelegentlich stößt die Technik dennoch an ihre Grenzen, beispielsweise, wenn der Computer PDF-Dokumente nicht richtig erkennt. Das ist einer der Fälle, in denen er auf die Hilfe seiner Kolleginnen und Kollegen angewiesen ist. „In solchen Momenten habe ich das Gefühl, als blinder Mensch ist man doch nicht immer voll einsetzbar“, meint Krauser. Allerdings weiß er auch, dass Kollegen und Vorgesetzte für diese Fälle normalerweise mehr Verständnis haben als er gegenüber sich selbst.
Eigentlich habe ich schon lange das papierlose Büro.
Tätigkeiten in der Bank
Zu seinen Aufgaben in der Gruppe Grundsatzfragen Bilanzierung im Bereich Konzern Finanzen gehört es, für die Bank wichtige Entwicklungen und Neuerungen in den internationalen Rechnungslegungsstandards, den IFRS, herauszufiltern und Einschätzungen zu Auswirkungen auf die Bank abzugeben. Darüber hinaus beantwortet er Anfragen aus dem Haus oder dem Konzern, wie bestimmte Sachverhalte bilanziell abgebildet werden müssen. Ein drittes Aufgabengebiet ist die Verbandsarbeit. Die DZ BANK ist Mitglied in verschiedenen nationalen und internationalen Gremien, um ihre Interessen in die Beratungen über Regelungsvorhaben auf dem Gebiet der Rechnungslegung einzubringen. Rainer Krauser verfasst hierfür Stellungnahmen – häufig in Englisch.
Aktiv in allen Lebensbereichen
Englisch ist für Rainer Krauser kein Problem. Bereits als Gymnasiast verbrachte er ein Jahr als Austauschschüler auf einer Blindenschule in Philadelphia, um Auslandserfahrung zu sammeln und gute Englischkenntnisse zu erwerben. Während seines Jurastudiums studierte er zwei Semester englisches und internationales Recht in Großbritannien. Überhaupt ist Rainer Krauser ein sehr aktiver und auch sportlicher Mensch. 1996 nahm er sogar an den paralympischen Spielen im Judo teil. Judo trainiert er noch heute, allerdings nicht mehr für Wettkämpfe. Das Risiko, sich zu verletzen und dann einige Zeit beruflich auszufallen ist ihm zu hoch. Außerdem war er etliche Jahre in der Betriebssportgruppe Klettern aktiv und verfolgt die Spiele der Eintracht Frankfurt. In der Bank engagiert sich Krauser darüber hinaus seit einigen Jahren als Ersatzmitglied des Frankfurter Betriebsrates, wo er insbesondere die Interessen von Menschen mit Sehbehinderung einbringen kann.
Besuch einer Blindengruppe in der DZ BANK
Zu seinen zahlreichen Freizeitaktivitäten gehört auch die Mitarbeit im Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf. Auf Krausers Initiative hin besuchte eine Gruppe von Vereinsmitgliedern schon die DZ BANK. Neben Vorträgen über den genossenschaftlichen FinanzVerbund, DZ BANK Zertifikate und den blindengerechten Arbeitsplatz von Rainer Krauser war der Besuch in der Ausstellungshalle der Kunststiftung DZ BANK Höhepunkt des Programms. Eine Kunstführung für Blinde und Sehbehinderte verlangt, das Bild sehr detailliert zu beschreiben. „Blinde Menschen sind unglaublich konzentriert bei einer Führung“, so Kunstsammlungsleiterin Christina Leber, die die Gruppe durch die Schau führte. Es sei eher wie ein Dialog mit vielen Rückfragen, da sich blinde Menschen die Bilder über Vergleiche und Assoziationen erschließen. „Eine rundum gelungene Veranstaltung“, so das Fazit der Gäste.