„Ein nachhaltiger Anleihemarkt muss allen Branchen zugänglich sein“ – Drei Fragen an Frank Scheidig zu „Fit for 55“
Die EU hat gestern mit „Fit for 55“ ihren neuen Fahrplan zur Erreichung der Klimaziele bis 2030 vorgestellt – mit dem die Emissionen um 55 Prozent reduziert werden sollen. Bis 2050 sollen diese dann sogar vollständig ausgeglichen werden – ein ehrgeiziges Vorhaben. Wir haben Frank Scheidig gefragt, wie er die Pläne beurteilt. Er ist Mitglied im Sustainable Finance-Beirat, der die Bundesregierung zu nachhaltigen Finanzierungsthemen berät.
Herr Scheidig, was genau verbirgt sich hinter „Fit for 55“?
Konkret handelt es sich bei Fit for 55 um insgesamt 13 Gesetzesvorschläge. Einige davon sind neu, mit anderen werden bereits bestehende Gesetze überarbeitet. Den richtigen Mix aus marktwirtschaftlichen Instrumenten und politischer Regulierung für alle EU-Mitgliedsstaaten zu finden, war eine der großen Herausforderungen dieses Maßnahmenplans.
Die Maßnahmen betreffen eine breite Palette an Handlungsfeldern: von Vorgaben zu erneuerbaren Energieträgern über Energieeffizienz von Gebäuden bis hin zur Landnutzung, Energiebesteuerung, Lastenteilung und den Emissionshandel. Darüber hinaus ist ein sogenannter CO2-Ausgleichsmechanismus angedacht. Er soll das Risiko verringern, dass Unternehmen ihre CO2-Emissionen bloß an andere Stellen verlagern.
Die Europäische Kommission hat mit „Fit for 55“ einen wichtigen Impuls gegeben, um die Wirtschaft nach Corona wieder anzukurbeln und gleichzeitig die Klimapolitik voranzutreiben. Im September beginnen die Verhandlungen des Europarlaments und der 27 Mitgliedstaaten über die Vorschläge. Erst wenn alles Institutionen zustimmen, treten die Regeln in Kraft. Es bleibt zu hoffen, dass die Verhandlungen zügig voranschreiten, denn wir haben keinen Planeten B.
Der Anleihemarkt spielt bei der Finanzierung der Klimaschutz-Maßnahmen eine wichtige Rolle. Welchen Beitrag muss er leisten?
Ein nachhaltiger Anleihemarkt muss allen Branchen zugänglich sein. Wir schaffen keine dekarbonisierte Welt, wenn wir uns ausschließlich auf Industrien und Projekte beschränken, die bereits heute nachhaltig sind. Wir können einen viel größeren positiven Einfluss auf die globale Nachhaltigkeitsagenda nehmen, indem wir als verlässlicher Finanzierungspartner auch braune – also CO2-intensive – Unternehmen dabei unterstützen, hellbraun oder mittelfristig vielleicht sogar hellgrün werden. Zweckgebundene Transitionsanleihen können solchen Unternehmen dabei helfen, ihren schrittweisen Umstieg weg von fossilen Brennstoffen hin zu ökologisch sinnvolleren Lösungen zu gestalten. Die Emissionserlöse können diese Unternehmen dann etwa zur Finanzierung von Übergangstechnologien verwenden.
Die Bundesregierung hat im Mai ihre Sustainable Finance-Strategie veröffentlicht. Warum ist die Rolle der Finanzwirtschaft so wichtig?
Sustainable Finance sollte nicht als reines Instrument gesehen werden, um Projekte zu finanzieren, die ohnehin finanziert worden wären. Vielmehr sollte Sustainable Finance neue Investitionen anstoßen, die einen positiven Impact schaffen und somit einen wertvollen Beitrag zur nationalen, europäischen und globalen Nachhaltigkeitsagenda leisten. Hier könnte ein Transformations- und Impactfonds hilfreich sein, mit dessen Hilfe auch Projekte und Geschäftsmodelle von Unternehmen finanziert werden, die nach herkömmlichen Finanzierungsansätzen als nicht investierbar eingestuft werden.
Die öffentliche Hand hat in Sachen Sustainable Finance ihre Vorbildfunktion bisher zu wenig wahrgenommen. Das gilt auf Bundesebene, Landesebene und kommunaler Ebene. Daher sollte die Bundesregierung auch künftig auf ein Gremium wie den Beirat setzen, welches idealerweise mit mehr Ressourcen ausgestattet wird und dessen Mandat über eine reine Beratungsfunktion hinausgeht.