Ukraine-Krieg, Lockdowns in China und eine Zinswende, die in den Vereinigten Staaten bereits begonnen hat und im Euroraum vor der Tür steht. Die Rahmenbedingungen für die großen Indizes trüben sich ein. Noch im Januar stand der Dax bei über 16.200 Punkten, aktuell macht er es sich bei gut 14.000 Zählern gemütlich. Ähnlich sieht es auf der anderen Seite des Atlantiks aus. Der Nasdaq-100, in dem die 100 größten US-amerikanischen Nicht-Finanzunternehmen gelistet sind, ist seit Anfang des Jahres von über 16.000 auf unter 13.000 Punkte gefallen. Selbst etablierte Tech-Unternehmen, wie Netflix oder Tesla haben im letzten halben Jahr zum Teil weit über 50 Prozent an Börsenwert eingebüßt. Die Aussichten erscheinen wegen der vielen Unwägbarkeiten nicht rosig – zudem haben zahlreiche Geldhäuser – darunter auch die DZ BANK jüngst ihre Aktienmarktprognosen nach unten korrigiert. Chefanlagestratege Christian Kahler erklärt im Interview, warum er trotzdem Aktien für alternativlos hält und Vergleiche zur Dotcom-Blase nicht zulässt.
Herr Kahler, seit dem Corona-Tief im März 2020 kannten die Börsen nur eine Richtung: nach oben. Jetzt kühlen sich die Märkte deutlich ab. Waren die Kursgewinne vor allem mit billigem Geld erkauft?
Die hohen Kursgewinne seit 2020 kamen im Wesentlichen durch Tech-Aktien der zweiten und dritten Reihe zustande. Die zweite Reihe besteht aus Unternehmen, die während der Corona-Zeit boomten, Titel wie Zoom, Peloton oder Delivery Hero. Die Euphorie ist aber komplett verflogen, weil diese Unternehmen einem beinharten Wettbewerb ausgesetzt sind und so gut wie keine schützenden Alleinstellungsmerkmale haben. Die dritte Reihe besteht aus Aktien, die weder Umsätze noch Gewinne erzielen – da haben sich viele Anleger Feenstaub in die Augen blasen lassen, pure Fantasie. Einige dieser Unternehmen werden überleben, viele werden in die Insolvenz gehen müssen. Die positive Nachricht: Viele gute Unternehmen wurden ebenfalls an der Börse abgestraft und sind nun wieder günstig.
Der breite Aktienmarkt sieht aber sehr stabil aus: In den USA und im MSCI Welt dominieren Aktien aus den Branchen Technologie, Öl- und Gas sowie Banken. Big Tech wächst stabil, bei den Energieaktien sprudeln die Gewinne dank des hohen Rohölpreis und US-Banken profitieren von weniger Regulierung, einem guten Handelsgeschäft sowie von steigenden Zinsen. Konsumtitel laufen ohnehin sehr solide. Anleger, die global diversifiziert und langfristig anlegen, sollten sich in einem solchen Umfeld entspannen und nicht immer auf die Kurse schauen. Die Zinsen sind zwar infolge der hohen Inflation gestiegen, aber es ist nicht zu erwarten, dass, auch in Anbetracht der hohen Schuldenquoten weltweit, die Notenbanken den Zinsanstieg eskalieren lassen. Die Renditen bei Anleihen bleiben weit unter dem historischen Durchschnitt.
Nachdem insbesondere Tech-Aktien in den vergangenen Wochen abgerutscht sind, wurden erste Vergleiche zur Dotcom-Krise gezogen. Platzt jetzt die Blase?
Während der Dotcom-Blase, die im März 2000 platzte, war das Internet noch sehr neu und alle sahen es als das „nächste große Ding“. Tatsächlich kam es auch so, aber erst viele Jahre später. In den ersten Jahren war das Internet eher mit dem Videotext am Fernseher zu vergleichen. Die Unternehmen haben ein paar Informationen ins Web gestellt und E-Mail-Accounts angelegt. Wir, die Konsumenten, waren noch nicht so weit, das Internet wirklich sinnhaft zu nutzen. So kam es damals zur Spekulationsblase, die mit einem Platzen des Ballons schmerzhaft endete. Eine solche Entwicklung haben wir zuletzt auch in der zweiten und dritten Reihe der Tech-Werte gesehen, nicht aber bei den großen Titeln.
Von der Wiederholung dieser Entwicklung kann heute keine Rede sein: Die Top-Unternehmen im Nasdaq bedienen riesige, wachsende Märkte. So gibt es im Bereich Cloud-Computing mit den drei Anbietern Microsoft (Azure), Amazon (AWS) und Alphabet (Google Cloud) bereits heute ein Oligopol und die Wettbewerbsdynamik nimmt weiter ab. Aber: Laut Amazon-CEO Andy Jassy stehen erst 5 Prozent der IT-Ausgaben der Unternehmen für Cloud-Speicher. Wenn die großen Cloud-Hyperscaler nicht mehr investieren würden, hätten sie in zwölf bis achtzehn Monaten keine Kapazitäten mehr. Das ist ein ganz anderes Umfeld als im März 2000. Damals wurde der Nasdaq-100 an der Börse auch mit einem KGV von 185 bewertet, heute mit 22.
Das globale Umfeld ist weiterhin von Unsicherheiten geprägt und neue Blockbildungen könnten Lieferketten nachhaltig verändern. Was macht das mit den großen Börsen?
Die Unternehmen sind erstaunlich gut darin, Probleme in kurzer Zeit zu lösen. Es werden jetzt viele Lieferkettenkapazitäten in das System eingebaut, und die lieferkettenbedingte Inflation sollte in den nächsten Quartelen verschwinden.
Aber es dauert viel länger, die Rohstoffpreisinflation zu lösen. Es ist viel einfacher, ein Lagerhaus zu bauen, Mitarbeiter einzustellen oder die Automobilproduktion hochzufahren, als neue Bergbau- oder Energiekapazitäten in Betrieb zu nehmen. Hier spielt die Politik eine entscheidende Rolle, wie der Blick auf Russland zeigt. Das spricht dafür, dass die Inflation dauerhaft erhöht bleibt und damit auch die Zinsen nicht mehr fallen.
Am Aktienmarkt ist das aber alles längst bekannt und eingepreist. Ohnehin ist die Stimmung an den Märkten so schlecht wie seit einigen Jahren nicht mehr. Wenn alle einer Meinung sind, kommt es meist anders, so dass aus meiner Sicht vieles für eine baldige Trendwende an den Börsen spricht.
Wenn die Zinsen mittelfristig wieder in Richtung drei Prozent gehen und sich die Inflation beruhigt, werfen Anleihen wieder mehr ab. Gefährdet das den Aktienhype?
Anleihen bieten Privatanlegern keine Sicherheit. Wir hatten im ersten Quartal einen der stärksten Crashes der Geschichte an den Rentenmärkten. Hier fehlt die Fantasie für weitere Kursgewinne und die Attraktivität der Zinsanlage ist angesichts der hohen Inflation zwischenzeitlich komplett abhandengekommen. Ähnlich verhalten sind die Aussichten für vermietete Immobilien. Auch Kryptoanleger haben hohe Verluste erlitten.
Aktienanlagen bleiben langfristig die sicherste Anlage, weil hinter den Unternehmen Gründer, Manager und Mitarbeiter stehen, die sich in den Kopf gesetzt haben, wöchentlich 60 bis 80 Stunden zu arbeiten, um mit Produkten das Leben der Kunden zu verbessern. So einen Spirit gibt es bei Staatsanleihen nicht. Für mich macht das die Entscheidung leicht.